Anmerkungen zu sehr konzisen Ausführungen von GLP-Grossrätin Melanie Gasser im Regionaljournal vom 29. Oktober 2024.

In einem Beitrag vom Regionaljournal Bern Freiburg Wallis vom 29. Oktober 2024 (ab 12m:20s) hat sich Melanie Gasser, GLP-Grossrätin und Gemeinderätin „Soziales“ in Ostermundigen, in sehr konziser Art und Weise zum Dilemma geäussert, dem sich Gemeinden mit einer hohen Sozialhilfequote ausgesetzt sehen. Auch Urtenen-Schönbühl ist eine Gemeinde mit einer deutlich überdurchschnittlich hohen Soziallast. Ich erlaube mir zu den sehr zielführenden Ausführungen von Melanie Gasser einige Ergänzungen ökonomischer und politischer Natur.

Wie Melanie Gasser in diesem hörenswerten Interview (ab 12m:20s) korrekt ausführt, ist der Wohnungsmarkt bzw. die Verfügbarkeit von günstigem Mietwohnraum für die Höhe der Sozialhilfequote einer Gemeinde absolut entscheidend. Der Wohnungsmarkt ist politisch jedoch nur bedingt und nur sehr langfristig beeinflussbar (sehr begrenzte Eingriffsmöglichkeiten in die Eigentumsrechte der Investoren). Eine hohe Sozialhilfequote bedeutet: geringer Steuerertrag. Um wirksame, nachhaltige und kosteneffiziente Sozialpolitik zu betreiben, benötigt man jedoch ein gewisse Steuerertragskraft: Die nachhaltige Integration von Sozialhilfebeziehenden kostet Geld. Ebenso die Frühförderung von sozial benachteiligten Kindern. Je stärker die soziale Belastung der Schule, desto höher muss der Stellenetat der Schulsozialarbeit festgesetzt werden etc. Aus diesen Grund müssen Gemeinden mit einer hohen Soziallast in der Raumplanung eine Strategie verfolgen, die auf eine Reduktion der Soziallast und eine Stärkung der Steuerkraft abzielt. Politisch korrekt heisst das dann: Verbesserung der sozialen Durchmischung. Politisch weniger korrekt: Erneuerung sozial stark belasteter Wohnquartiere und Ansiedlung von guten Steuerzahlern. Diese Strategie ist nicht nur sozial, sondern auch ökonomisch rational: Ghetto-Bildung führt zu exponentiell steigenden sozialen Problemen und damit zu exponentiell steigenden sozialen Kosten (vgl. etwa Banlieues in Frankreich); eine einigermassen gleichmässige Verteilung der Soziallast über die Gemeinden ist deshalb auch aus ökonomischer Sicht wünschenswert. Der siedlungspolitischen Qualitätsstrategie, welche Gemeinden mit einer hohen Soziallast verfolgen sollten, ist jedoch immer die Problematik des „Abstossungswettbewerbs“ inhärent: Menschen mit geringem Einkommen finden keine bezahlbaren Wohnungen mehr, was im Einzelfall zu sehr stossenden Ergebnissen führen kann (im schlimmsten Fall müssen die Kinder die Schule wechseln, weil die Eltern in der Gemeinde keine bezahlbare Wohnung mehr finden).

Eine besondere Rolle spielt in diesem Kontext die Mietzinsrichtlinie, über welche die kommunalen Sozialkommissionen entscheiden. Die Mietzinsrichtlinie definiert den maximalen Beitrag der Sozialhilfe an die Wohnkosten. Wenn die effektiven Wohnkosten von Sozialhilfebeziehenden höher sind als die Mietzinsrichtlinie, müssen sie die Mehrkosten aus dem Grundbedarf querfinanzieren, der für die Deckung ihrer anderen Grundbedürfnisse (Nahrung, soziale Teilhabe etc.) vorgesehen ist. Ich bin grundsätzlich der politischen Überzeugung, dass Gemeinden mit einer hohen Soziallast die Mietzinsrichtlinie eher restriktiv, während Gemeinden mit einer tiefen Soziallast diese grosszügig definieren sollten. Denn nur so kann der volkswirtschaftlich schädlichen Bildung von sozialen Brennpunkten entgegengewirkt werden. Auf der Grundlage der empirischen Evidenz, die mir zur Verfügung steht, habe ich allerdings keine Hinweise darauf, dass Gemeinden mit einer tiefen Soziallast ihre soziale Verantwortung wahrnehmen und die Mietzinsrichtlinie grosszügig festlegen. Im Gegenteil: ich habe eher den Eindruck, dass Gemeinden mit einer tiefen Soziallast die Mietzinsrichtlinie deutlich zu tief ansetzen. Mit Blick auf eine gleichmässige Verteilung der Soziallast über die Gemeinden ist eine restriktive Handhabung der Mietzinsrichtlinie durch Gemeinden mit einer tiefen Soziallast jedoch nicht wohlfahrtsfördernd. Tatsächlich: Gemeinden mit einer sehr tiefen Soziallast sollten aus Gründen der übergeordneten Wohlfahrt eigentlich das Ziel verfolgen, günstigen Wohnraum zu schaffen und sozial benachteiligte Menschen anzusiedeln. Wahrscheinlich gibt es im Kanton Bern keine/n einzige/n Kommunalpolitiker/in, der sich öffentlich zu diesem Ziel bekennen würde.

Man darf sich keine Illusionen machen: Die Mietzinsrichtlinie ist das Instrument Nr. 1 des Abstossungswettbewerbs. Umso unverständlicher ist es meines Erachtens, dass die Mietzinsrichtlinien der Gemeinden vom Kanton nicht genehmigt werden müssen und dass es keine suprakommunale Koordination der Mietzinsrichtlinien gibt. Auch die von Regierungsrat Pierre-Alain Schnegg vorgelegte Totalrevision des Sozialhilfegesetzes sieht diesbezüglich keine Neuerungen vor: Der Missbrauch der Mietzinsrichtlinie als Instrument des Abstossungswettbewerbs ist schlicht und einfach kein politisches Thema. Wenn Sozialhilfebeziehende entgegen dem Willen des Gesetzgebers einen Teil ihrer Wohnkosten aus dem Grundbedarf quersubventionieren müssen, interessiert das offenbar niemanden. Dies zeigt sich bereits daran, dass es zu dieser Problemstellung keine systematische Berichterstattung gibt: Der Anteil der Sozialhilfebeziehenden, die ihre Wohnkosten aus dem Grundbedarf quersubventionieren müssen, müsste für jede Gemeinde auf jährlicher Basis erhoben und publiziert werden (triviale, wenig aufwändige Aufgabe). Ebenso müsste der Abstand der Mietzinszinsrichtlinie zum durchschnittlichen Mietzinsniveau in den Gemeinden mindestens einmal pro Legislatur erhoben und publiziert werden (Daten können bei Wüst und Partner eingekauft werden). Ohne diese Grundlagendaten ist eine politische Diskussion der Konzeption fairer und wohlfahrtsmaximierender Mietzinsrichtlinien nicht möglich.