In einem NZZ-Interview hat Urs Mühle mehr oder weniger vor dem bevorstehenden Zusammenbruch des Systems der wirtschaftlichen Sozialhilfe gewarnt. Das Gleichgewicht zwischen Eigenverantwortung und Solidarität sei aus dem Gleichgewicht geraten. Ein Rückbau des Systems sei unumgänglich. Ich unterziehe die Prämissen seiner stark normativen Ausführungen einer evidenzbasierten Analyse und komme zum Schluss, dass die empirischen Daten sein Narrativ nicht stützen.

In der Ausgabe vom 10. Februar 2025 führte NZZ-Redaktor Fabian Schäfer ein interessantes Interview mit dem 72-jährigen Sozialarbeiter-Urgestein Urs Mühle. Urs Mühle’s Position lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wir haben uns vom «Gedanken der Sozialhilfe als Grundsicherung für elementare Bedürnfisse: Wohnung, Ernährung, Gesundheit» entfernt und die Sozialhilfe «von einem einfachen System der Nothilfe zu einer umfassenden Versicherung» ausgebaut . Dieser Ausbau hat zu einer «schädlichen Anspruchshaltung» geführt und subsidiäre Hilfe im Rahmen «starker familiärer Netzwerke» wegsubstituiert: «Die Eigenverantwortung erodiert, das Familiensystem spielt keine Rolle mehr.». Der Handlungsbedarf ist gemäss Mühle gross: «[…] aus meiner Sicht braucht es unbedingt eine Neuausrichtung. Es läuft aus dem Ruder, wir müssen die Sozialhilfe zurückbauen. Die Balance zwischen Verantwortung des Einzelnen und Solidarität der Allgemeinheit stimmt nicht mehr.»

In den sozialen Medien gab es für diese Diagnose beachtlichen Applaus – sogar von prominenter Seite. So twitterte etwa Andrea Gmür, Ständerätin des Kantons Luzern und Mitglied der Partei «Die Mitte», die sich als «sozialkonservative Kraft» versteht:

Es stellt sich unmittelbar die Frage, ob die Diagnose von Urs Mühle zutreffend ist. Es dürfte einen Konsens darüber geben, dass – wäre die Diagnose zutreffend – zu erwarten wäre, dass die geltend gemachte «Erosion der Eigenverantwortung» in den letzten 20 Jahren zu einem Anstieg der Sozialhilfequote geführt hat. Wie Abbildung 1 zeigt, lässt sich ein solcher Anstieg seit 2005 jedoch nicht beobachten. Ganz am Ende des Interviews (reichlich spät!) auf dieses fundamentale Problem von Fabian Schäfer angesprochen, meint Urs Mühle lapidar: «Das verdanken wir der guten Wirtschaftsentwicklung.».

Abbildung 1: Entwicklung der Sozialhilfequote und des realen BIP-Wachstums, Schweiz 2005-2023

Quelle: BFS

Urs Mühle scheint insgesamt also der Ansicht zu sein, dass die Sozialhilfequote (SHQ) strukturell gestiegen ist, dieser Anstieg jedoch von vorteilhaften konjunkturellen Effekten überlagert wird und damit nicht sichtbar ist. Ich habe die Plausibilität dieser These überprüft, indem ich den Impact des BIP-Wachstums (BIPW) auf die Sozialhilfequote im Rahmen eines sogenannten ARMAX-Modells (Autoregressive Moving Average Model with Exogenous Variables) modelliert habe. Das beste Modell, das ich gefunden habe, ist ein ARX(1,2)-Modell:

SHQt = α + φ ⋅ SHQt-1 + β1 ⋅ BIPWt + β2 ⋅ BIPWt-1

Gemäss diesem Modell hängt die Sozialhilfequote zum Zeitpunkt t von der Sozialhilfequote im Vorjahr, vom BIP-Wachstum zum Zeitpunkt t und vom BIP-Wachstum im Vorjahr ab. Die Regressionskoeffizienten β₁ und β₂ zeigen den direkten Einfluss das BIP-Wachstums auf die Sozialhilfequote. Da die Sozialhilfequote zum Zeitpunkt t auch von der Sozialhilfequote im Vorjahr abhängt, setzt sich die direkte Wirkung des BIP-Wachstums über den Regressionskoeffizienten φ in der Zukunft weiter fort (indirekter Effekt).

Die Ergebnisse der Regression sind:

                              OLS Regression Results                              
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Dep. Variable:              Sozialhilfequote   R-squared:                       0.670
Model:                                OLS      Adj. R-squared:                  0.599
Method:                     Least Squares      F-statistic:                     9.467
Date:                    Sun, 23 Feb 2025      Prob (F-statistic):            0.00113
Time:                            13:02:00      Log-Likelihood:                 18.482
No. Observations:                      18      AIC:                            -28.96
Df Residuals:                          14      BIC:                            -25.40
Df Model:                               3                                         
Covariance Type:                nonrobust                                         
===============================================================================================
                                  Koeff.     Std. Fehler      t       P>|t|      [0.025      0.975]
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Konstante                         0.9596      0.621      1.544      0.145      -0.373       2.292
Sozialhilfequote (t-1)            0.7348      0.199      3.693      0.002       0.308       1.162
BIP-Wachstum (t)                 -0.0438      0.013     -3.244      0.006      -0.073      -0.015
BIP-Wachstum (t-1)               -0.0325      0.013     -2.480      0.026      -0.061      -0.004
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Omnibus:                        0.095   Durbin-Watson:                   1.529
Prob(Omnibus):                  0.954   Jarque-Bera (JB):                0.307
Schiefe:                         0.095   Prob(JB):                        0.858
Kurtosis:                        2.389   Kond. Nr.:                         127.
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Setzt man die geschätzten Koeffizienten in obige Gleichung ein, ergibt sich folgende Parametrisierung des Modells:

SHQt = 0.960 + 0.735 ⋅ SHQt-1 – 0.044 ⋅ BIPWt – 0.033 ⋅ BIPWt-1

Die direkte Wirkung einer Veränderung des BIP-Wachstums auf die Sozialhilfequote ist gering. Sinkt das BIP z.B. um 1%, beträgt die direkte Wirkung auf die Sozialhilfequote nur gerade +0.0763% (0.0438% im gleichen Jahr und 0.0325% im darauffolgenden Jahr). Die Gesamtwirkung ist jedoch deutlich höher, weil die Sozialhilfequote im Jahr t+1 stark von der Sozialhilfequote im Jahr t abhängt: Erhöht sich die Sozialhilfequote im Jahr t z.B. um 1%, steigt die Sozialhilfequote im Jahr t+1 um 0.7348% (vgl. Koeffizient des AR(1)-Terms). Der Koeffizient des AR(1)-Terms von 0.7348 verweist auf eine hohe Persistenz bzw. Trägheit der Sozialhilfequote, der wohl dahingehend zu interpretieren ist, dass die Ablösung von der Sozialhilfe Zeit benötigt. Der direkte Effekt einer Veränderung des BIP-Wachstums auf die Sozialhilfequote führt über diese Persistenz zu einer weiteren, indirekten Wirkung. Der langfristige Gesamteffekt („Longrun-Multiplier LRM“) einer permanenten Erhöhung des BIP-Wachstums um 1% auf die Sozialhilfequote ist gegeben durch:

LRM = β 1 + β 2 1 φ = 0.044 + 0.032 1 0.735 = 0.287

Eine permanente Reduktion des BIP-Wachstums um 1% führt also langfristig zu einer Erhöhung der Sozialhilfequote um knapp 0.3%. Dies macht deutlich, dass der Impact der wirtschaftlichen Entwicklung auf die Sozialhilfequote insgesamt gering ist. Bei einem BIP-Wachstum von 0.0% z.B. würde langfristig eine Sozialhilfequote von 3.68% resultieren.

Die festgestellte geringe Abhängigkeit der Sozialhilfequote von der wirtschaftlichen Entwicklung indiziert meines Erachtens, dass ein grosser Teil der Sozialhilfebeziehenden dem ersten Arbeitsmarkt – zumindest kurzfristig – schlichtweg nicht zuführbar ist – sei es, weil sie in Ausbildung (Minderjährige), bereits im ersten Arbeitsmarkt tätig (Working Poor) oder aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeitsmarktfähig sind. Sie indiziert meines Erachtens sogar, dass unsere Sozialdienste im Bereich der Reintegration insgesamt gute Arbeit leisten: der Pool an Sozialhilfebeziehenden, die bei einem wirtschaftlichem Aufschwung mittels Reintegration in den Arbeitsmarkt von der Sozialhilfe abgelöst werden können, ist offenbar vergleichsweise gering. Urs Mühle scheint auch der Ansicht zu sein, dass durch eine Reduktion des Leitungsniveaus (er scheint zumindest dafür zu plädieren, dass die Mittel, die im Sozialhilfe-Budget für „soziale Teilhabe“ vorgesehen sind, ersatzlos gestrichen werden) die Arbeitsanreize erhöht und die Sozialhilfequote so substantiell reduziert werden kann. Angesichts der soeben präsentierten empirischen Ergebnisse habe ich erhebliche Zweifel, dass dies zutreffend ist: Bei Menschen, die dem ersten Arbeitsmarkt aus objektiven Gründen (Ausbildung, Krankheit, Erziehungspflichten, Working Poor) nicht zuführbar sind, bringt Incentivierung nichts. Die Unterscheidung zwischen incentivierbaren und nicht-incentivierbaren Sozialhilfebeziehenden spricht übrigens gegen die von ihm geforderte Abschaffung der Bedarfsorientierung, die er „Individualisierung“ nennt, zugunsten einer „Pauschalierung“. Insbesondere dann, wenn er Einkommensfreibeträge auch als Instrument der „Individualisierung“ versteht, die liquidiert gehören. Überhaupt ist mir mir völlig unklar, warum eine Pauschalierung der Leistungen die Anreize zur Ablösung von der Sozialhilfe erhöhen sollte. Meines Erachtens ist das magisches Denken. Das Argument für eine Pauschalierung ist meines Erachtens die Reduktion des Vollzugsaufwands, nicht eine Veränderung der Struktur der Anreize.

Wenden wir uns nun der Frage zu, ob die konjunkturell bereinigte Sozialhilfequote seit dem Jahr 2005 – wie von Urs Mühle implizit postuliert – gestiegen ist. Hierfür bereinige ich die effektive Sozialhilfequote um die konjunkturellen Einflüsse des BIP, und nenne diese strukturelle Sozialhilfequote. Sie ist gegeben durch:

SHQtstrukturell = SHQt − (β1 ⋅ BIPWt + β2 ⋅ BIPWt-1)

Wenn die These von Urs Mühle zutreffend ist, sollte die diese strukturelle Sozialhilfequote ein positives Trendwachstum aufweisen. Wie nachfolgende Abbildung zeigt, tut sie dies jedoch nicht. Der Trend ist sogar leicht negativ, allerdings weit davon entfernt, statistisch signifikant zu sein.

Abbildung 2: Entwicklung und Trend der konjunkturell bereinigten Sozialhilfequote

Quelle: Eigene Berechnungen

Die Ergebnisse meiner empirischen Analyse lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  • Die Sozialhilfequote weist eine hohe Persistenz bzw. Trägheit auf, so dass die Sozialhilfequote nach einem Schock vergleichsweise langsam zum langfristigen Gleichgewicht zurückkehrt.
  • Der Impact der wirtschaftlichen Entwicklung auf die Sozialhilfequote ist vergleichsweise gering, was indiziert, dass andere Faktoren (z.B. Veränderungen in vorgelagerten Sozialversicherungen oder der soziodemografischen Struktur der Bevölkerung) bedeutsamer sind.
  • Es gibt keine Hinweise darauf, dass die strukturelle, d.h. konjunkturell bereinigte Sozialhilfequote seit 2005 gestiegen ist.
  • Ausgehend vom geschätzten ARX(1,2)-Modell und dem vom SECO prognostizierten BIP-Wachstum (2024: 0.9%, 2025: 1.5%, 2026: 1.7%) prognostiziere ich für die Schweiz folgende Sozialhilfequoten: 2024: 2.96%, 2025: 3.04%, 2026: 3.07%. In der nahen Zukunft ist also mit einer moderaten Zunahme der Sozialhilfequote zu rechnen.

Im Sinne eines Caveats ist folgendes zu bemerken.

  • Die Analyse beruht auf einer Zeitreihe, die nur 18 Jahre umfasst. Das ist an der unterste Grenze für eine zeitreihenanalytische Modellierung. Allerdings habe ich die Robustheit der Ergebnisse mittels einer Batterie von Tests (statistische Tests und Sensitivitätsanalysen) validiert und die Schätzergebnisse scheinen relativ robust zu sein. Insbesondere habe ich auch ein Modell geschätzt, das anstelle des BIP-Wachstums die Arbeitslosenquote verwendet. Auch hier resultierte ein ARX(1,2)-Modell mit einem vergleichbaren, leicht stärkeren Impact des wirtschaftlichen Umfelds auf die Sozialhilfequote. Die Arbeitslosenquote verbessert die Modellgüte noch ein wenig, die Arbeitslosenquote scheint für die Sozialhilfequote also der bessere Prädiktor zu sein als das BIP-Wachstum.
  • In der Periode 2005 bis 2023 gab es keine Rezession, die über mehrere Jahre anhielt. Ich kann nicht ausschliessen, dass die Wirkung der wirtschaftlichen Entwicklung auf die Sozialhilfequote nicht linear ist. Es ist deshalb denkbar, dass ich den Impact der wirtschaftlichen Entwicklung auf die Sozialhilfequote unterschätze.

Trotz dieser Caveats kann festgehalten werden, dass die empirischen Daten das Narrativ, das Urs Mühle im NZZ-Interview hochgezogen hat, nicht stützen. Möglicherweise sollte man nicht das System der wirtschaftlichen Sozialhilfe, sondern die spekulative Untergangsrhetorik zurückbauen.

Abschliessend erlaube ich mir noch eine weitere normative Stellungnahme: Im Jahr 2023 betrugen die Ausgaben für die wirtschaftliche Sozialhilfe CHF 2.5 Mia. Das sind 0.31% des BIP bzw. 285 Franken pro Einwohner/in. Urs Mühle scheint ein Problem damit zu haben, die Sozialhilfe als Versicherung zu verstehen. Aber man kann die Sozialhilfe durchaus als Versicherung gegen das Risiko, seinen Lebensunterhalt – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr bestreiten zu können, verstehen. Die 285 Franken pro Jahr sind die Versicherungsprämie. Ich denke, dass ich in meinem Versicherungsportfolio unvorteilhaftere Policen halte.

PS: Markus Kaufmann, Geschäftsführer der Konferenz für Sozialhilfe SKOS, hat in diesem NZZ-Interview bereit ausführlich Stellung zu den Ausführungen von Urs Mühle genommen.

PPS: Wie immer, nehme ich konstruktive Kritik gerne entgegen.