Die Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion (GSI) des Kantons Bern hat am 1. Juli 2024 die Vernehmlassung zur Totalrevision des Sozialhilfegesetzes (SHG) eröffnet. Der in die Vernehmlassung geschickte Gesetzesentwurf sieht die Einführung eines Selbstbehalts beim Lastenausgleich «Sozialhilfe» mit einer Abfederung über den Soziallastenindex vor – in Umsetzung der Motion «Selbstbehalt setzt wirksame Anreize bei der wirtschaftlichen Sozialhilfe» (131-2019).
Ich habe mich bereits vor einiger Zeit in einem Blog-Beitrag zum geplanten Selbstbehalt beim Lastenausgleich „Sozialhilfe“ geäussert, als noch nicht klar war, wie die Abfederung des Selbstbehalts genau vorgenommen werden sollen. Nun ist klar, wie das Selbstbehalt-Modell im Detail umgesetzt werden soll. Ich habe das von der GSI vorgeschlagene Selbstbehalt-Modell deshalb einer detaillierten formalen ökonomischen Analyse unterzogen, die hier heruntergeladen werden kann:
Anreizökonomische Analyse des Selbstbehalts-Modells.pdf
Die Erkenntnisse dieser Analyse lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Das Selbstbehalt-Modell ist eine Bonus-Malus-Modell. Das frühere Bonus-Malus-Modell war auch ein Selbstbehalt-Modell (und zwar ein besseres). Das Selbstbehalt-Modell und das frühere Bonus-Malus-Modell sind Anreizmodelle der genau gleichen Modellklasse.
- Betragen die strukturell bedingten Sozialhilfeausgaben der Gemeinde mit der tiefsten Soziallast pro Kopf 0 Franken, führt das Selbstbehalt-Modell im Wesentlichen zu den gleichen Ergebnissen wie das frühere Bonus-Malus-Modell. Bei Abweichungen hiervon resultieren Verzerrungen.
- Das Selbstbehalt-Modell ist mit anreizökonomischen Mängeln behaftet. Insbesondere kann das Selbstbehalt-Modell nicht sicherstellen, dass kosteneffiziente Gemeinden belohnt und kostenineffiziente Gemeinden bestraft werden – sogar dann, wenn es möglich wäre, die Soziallast der Gemeinden perfekt zu messen.
- Die Anbindung der Rückerstattung der Selbstbehalte an den Soziallastenindex dürfte zu einer unfairen Rückverteilung der Selbstbehalte an die Gemeinden führen.
- Beim Selbstbehalt-Modell dürfte der Bonus bzw. der Malus, welche eine Gemeinde erhält bzw. bezahlen muss, von der Soziallast (und sogar von der Zahl der Einwohner/innen) anderer Gemeinden abhängen. Es macht anreizökonomisch keinen Sinn, den Bonus bzw. Malus einer Gemeinde von Entwicklungen in anderen Gemeinden, welche die Gemeinde nicht beeinflussen kann, abhängig zu machen.
- Das Selbstbehalt-Modell dürfte mit einer systematischen, d.h. nicht-zufälligen Ungleichbehandlung der Gemeinden in Abhängigkeit ihrer Soziallast verbunden sein. Richtung und Ausmass dieser Ungleichbehandlung kann nur mittels einer empirischen Analyse festgestellt werden.
- Das Selbstbehalt-Modell ist nicht in der Lage, verlässliche Aussagen zur Kosteneffizienz der Sozialdienste zu machen. Das Bonus-Malus-Malus war dazu auch nicht, aber besser in der Lage.
- Das frühere Bonus-Malus-Modell ist dem Selbstbehalt-Modell klar überlegen.
- Eine automatische Festsetzung von Boni und Mali auf der Grundlage eines Regressionsmodells ist nicht zielführend, darauf wurde bereits im Gutachten zum Bonus-Malus-Modell hingewiesen. Auch das Selbstbehalt-Modell setzt auf einen Automatismus.
- Die Anreizwirkung des Selbstbehalt-Modells (und auch des früheren Bonus-Maus-Modells) ist zu wenig präzise. Das Selbstbehalt-Modell setzt nicht Anreize zur Maximierung der Kosteneffizienz, sondern zur Minimierung der Kosten. Maximierung der Kosteneffizienz und Minimierung der Kosten sind nicht das gleiche.
- Das Selbstbehalt-Modell könnte nicht-intendierte Wirkungen entfalten, die sich sehr nachteilig auf die Sozialhilfebeziehenden auswirken könnten. Nicht-intendierte Wirkungen werden im Vortrag der GSI nicht thematisiert.
- Ein zielführendes Anreizsystem muss Boni und Mali auf der Ebene der einzelnen Dossiers festsetzen. Boni und Mali sollten nicht auf der Ebene der Gesamtkosten eines Sozialdienstes festgesetzt werden.
- Mit dem Projekt «NFFS» und der Fachstelle «Sozialrevisorat» werden die Voraussetzungen für die Schaffung eines zielführenden Anreizmodells geschaffen. Zurzeit sollte auf die Einführung eines solchen Modells verzichtet werden.
Die detaillierte Analyse kann hier heruntergeladen werden. Trigger-Warnung: Die Analyse enthält einige mathematischen Formel und Gleichungen.
Zu bemerken ist, dass es sich dabei um eine überarbeitete Version handelt. Eine erste Version habe ich am 17. Juli 2024 publiziert (die alte Version kann hier heruntergeladen werden kann).